Mein Zenweg - 

und wie mich Willigis dabei begleitete


Berlin-Kreuzberg

Berlin war 1978 wie ein von einer Mauer umgebener Mikrokosmos mit einem unüberschaubaren Angebot an Initiativen und Möglichkeiten. Das Leben hatte ein hohes Tempo. Immer wieder lernte ich neue Menschen kennen, verlor sie dann aber auch schnell wieder aus den Augen. Ich war wegen meines Studiums hierhergezogen, lebte intensiv und hatte stets das Gefühl, auf der Suche zu sein.
Eines Tages fiel mir beim Stöbern im Buchladen ein kleines Büchlein von einem japanischen Autor in die Hand: "ZaZen - Die Praxis des Zen". Mich faszinierte die Schlichtheit der Übung, die hier beschrieben wurde. Es ging nicht darum, komplizierte Abläufe zu trainieren oder irgendwelche Theorien zu studieren. Sich in aufrechter, stabiler Körperhaltung auf ein Kissen zu setzen und in den eigenen Atem hinein zu spüren - das war alles. Ich probierte es aus und irgendwie schien dieses Meditieren das hohe Tempo mit dem ich meinen Alltag durchraste etwas abzubremsen, was sich gut anfühlte.

Ich wohnte in Berlin unterhalb des Kreuzbergs. In der Nähe gab es eine Aikido Schule, bei der ich einmal zum Probetraining gewesen war. Hier traf sich jeden Sonntagvormittag eine Gruppe zur Zenmeditation. So machte ich mich eines Sonntags auf den Weg und platzte mitten in die Meditationsübung hinein. Ich war zu spät gekommen. Es war peinlich und zugleich befremdlich. Etwa ein Dutzend Menschen, in schwarze Gewänder gekleidet, saßen schweigend mit dem Gesicht zur Wand auf ihren Kissen. Als ich mich schon wieder davonschleichen wollte, erhob sich eine Frau von ihrem Platz und kam zu mir. Ich flüsterte ihr zu, dass ich gerne einmal Zenmeditation ausprobieren möchte, woraufhin sie mir ein freies Kissen zuwies und mir zu verstehen gab, ich solle mich so verhalten wie alle anderen. Da saß ich nun zwischen den schwarz gewandeten Menschen um mich herum und fühlte mich ziemlich fehl am Platz. Doch zugleich faszinierte mich diese Atmosphäre der Stille, sprach irgendetwas an in meinem Inneren. Nach einer Weile ertönte eine Klangschale und die anderen begannen gemeinsam einen gebetsähnlichen Text zu sprechen, den ich nicht verstand. Beim Gehen bedankte ich mich und legte etwas Geld in die Spendenschale. Ich ging nie wieder zu dieser Gruppe. Doch der Besuch dort hatte Spuren hinterlassen und ich begann regelmäßig für mich alleine zu sitzen, Zazen zu praktizieren.

Es geschah eigentlich nichts Spektakuläres, wenn ich meditierte. Bisweilen tauchten intensive Emotionen oder Erinnerungen auf. Ich blieb dann weiter sitzen, spürte in meinen Atem hinein und mit der Zeit verloren diese Dinge immer mehr von ihrer Intensität. Nach dem Sitzen war ich meistens irgendwie besser drauf. Ich fühlte mich entspannter und manches, was ich im Alltag als belastend empfunden hatte, fühlte sich für eine Weile leichter an.
Würzburg - Haus St. Benedikt

Anfang der 80er Jahre beendete ich mein Architekturstudium und zog nach Bamberg. Mein ältester Sohn wurde geboren und ich eröffnete mit Freunden zusammen ein Architekturbüro. Nach wenigen Jahren ging meine Beziehung auseinander und auch die Mitglieder der Bürogemeinschaft schlugen eigene Wege ein. In Stegaurach, einer Vorortgemeinde von Bamberg, baute ich ein Haus in das ich gemeinsam mit meinem Sohn Fabi einzog und in dem ich nun auch mein eigenes Architekturbüro betrieb. Ich verliebte mich neu und ein Jahr später wohnte Maja, meine heutige Frau mit ihren beiden Söhnen Jojo und Beni bei uns.

Seit dem Besuch bei der Berliner Gruppe hatte ich immer wieder für mich alleine meditiert. Wenn es mir gut ging seltener, dafür in bewegten Zeiten oft recht ausgiebig. Dieses Sitzen in Stille war wie eine Art Sicherungsseil in meinem Alltag geworden, wie auf einem Klettersteig in den Bergen. Wenn mein Alltag etwas aus den Bahnen geriet und ich bisweilen auch das Gefühl hatte, dass sich der eine oder andere Abgrund vor mir auftuen könnte, setzte ich mich auf mein Kissen. Das half, dunkle Wolken aus meiner Seele weiterziehen und neue Energie in mir aufkeimen zu lassen.

Irgendwann erzählte mir ein Bekannter vom Haus St. Benedikt, einem Zentrum für Zenmeditation in Würzburg, welches der Benediktinerpater Willigis Jäger leitete. Ich hatte zwischenzeitlich ein paar Bücher über Zen gelesen, in denen eigenwillige Zenmeister und tagelange, sehr strenge Meditationsübungen beschrieben wurden, was mir alles großen Respekt einflößte. Ich war mir unsicher, ob ich solche intensiven Übungen durchhalten würde. Andererseits war ich aber auch neugierig auf die Anleitung durch einen erfahrenen Lehrer und die Erfahrung, die mir ein mehrtägiges Meditieren bescheren würde.

Im Oktober 1992 meldete ich mich für eine Wochenendeinführung an, die von Joan Rieck, einer amerikanischen Zenlehrerin geleitet wurde. Dieser Kurs sprach mich so sehr an, dass ich bereits Anfang Dezember zu einem Sesshin auf den Sonnenhof fuhr, einem Meditationszentrum im Schwarzwald, das damals von Joan Rieck geleitet wurde. Dort empfing mich eine schneebedeckte Winterlandschaft. Das Sesshin dauerte sechs Tage. Vom Wecken um fünf Uhr bis zum Zu-Bett-gehen um 21 Uhr war der Tagesablauf klar strukturiert. Die Meditationszeiten wurden durch drei Mahlzeiten, etwas Mitarbeit im Haus und einen Vortrag der Lehrerin unterbrochen. Außerdem bestand die Möglichkeit, Joan Rieck zu einem Einzelgespräch, einem Dokusan aufzusuchen.


Ich war aufgeregt. Diese ungewohnt langen Sitzzeiten und zudem gab es allerhand Rituale, die eingehalten werden sollten. Ich versuchte, mich nach dem zu richten, was die anderen machten und irgendwie klappte es nach einer Weile ganz gut. Diese geregelten Abläufe halfen mir dabei, besser zur Ruhe zu kommen. Alles war vorgegeben, ich musste mich eigentlich um nichts kümmern. Ab dem dritten Tag hatte ich beim Sitzen heftige Schmerzen in den Beinen, aber mit der Zeit ließen diese auch wieder nach. Auf irgendeine Weise schien sich in diesem Raum durch das gemeinsame Meditieren eine besondere Energie aufzubauen, die mir half, die Schmerzen weiter ziehen zu lassen. Ich achtete auf meinen Atem und versuchte meine Atemzüge zu zählen, immer von eins bis zehn. Wenn ich merkte, dass ich in Gedanken abgeschweift war, fing ich einfach wieder von vorne bei eins an. Auch während der Mithilfe bei der Hausarbeit wurden meine Gedanken zunehmend ruhiger und ich war viel aufmerksamer bei dem, was ich gerade tat. Es geschah eigentlich nichts Spektakuläres, doch diese Tage der Stille fühlten sich innerlich gut an. So meldete ich mich, kaum war ich wieder zuhause, für Februar zum nächsten Kurs an und die Teilnahme an mehreren Sesshins im Jahr wurde für lange Zeit zum festen Bestandteil meines Lebens.


Ich wäre auch gerne einmal zu Willigis Jäger gegangen, aber es war sehr schwer, bei ihm einen Platz zu bekommen. Bis auf wenige Ausnahmen, waren alle seine Sesshins für diejenigen reserviert, die offiziell Schüler von ihm waren. So besuchte ich im Haus St. Benedikt Kurse von Joan Rieck und Uta Dreisebach, einer anderen Zenlehrerin.
Schließlich gelang es mir 1995 einen Platz bei einem Sesshin von Willigis Jäger zu bekommen. Während eines Dokusans fragte ich ihn, mehr neugierig, was die Voraussetzungen dafür seien, um bei ihm Schüler zu werden. Daraufhin nahm er gleich einen Zettel und notierte meinem Namen. Als ich etwas zögerte, da mir diese grundlegende Entscheidung etwas zu schnell ging, sagte er, wenn ich einen Berg besteigen will, bleibe ich ja auch nicht davor stehen, sondern mache mich auf den Weg nach oben. Er trug mir noch auf, ein Päckchen Räucherstäbchen zu kaufen und ins Zendo zu legen, damit sie dort abgebrannt werden könnten. Ab jetzt war ich Schüler bei Willigis Jäger. Damit hatte ein Stück Suche für mich aufgehört.
Wenn ich im Herbst das neue Kursprogramm für das kommende Jahr im Briefkasten fand, nahm ich mir gleich meinen Terminkalender und meldete mich für drei oder vier Kurse bei Willigis an. Das war jetzt eine Selbstverständlichkeit für mich und ich brauchte mir keine Gedanken mehr zu machen, ob und bei wem ich ein Sesshin besuchen wollte. Besonders gerne mochte ich Kurse von Willigis, die auf dem Sonnenhof im Schwarzwald stattfanden. Das Haus war kleiner und schlichter als das Haus St. Benedikt in Würzburg. Ich empfand diese Atmosphäre passender für meine Meditationsübung und auch die landschaftliche Umgebung des Hochschwarzwaldes war eine wohltuende Abwechslung zu meinem Alltag.


Der Ablauf der Sesshins unterschied sich bei Willigis kaum von dem der anderen Zenlehrer, die ich schon kannte. Früh aufstehen, Zazen, Frühstück, Mitarbeit im Haus, anschließend wieder Zazen, unterbrochen von einem Vortrag, Mittagessen, Zazen, Abendessen, Zazen. Alles erfolgte im Schweigen, bis auf die Gespräche bei Willigis, zu denen man zwei- bis dreimal während dieser Tage gehen konnte. Zwischendurch gab es Gelegenheit zu kleinen Spaziergängen in der Umgebung des Sonnenhofs, in der jahreszeitlich sich verändernden Landschaft des Schwarzwaldes. Eine Besonderheit bei den Kursen von Willigis war, dass er bisweilen am Nachmittag, während wir im Zendo in unserer Übung saßen, zu uns kam und sagte „Wir machen jetzt Shikantaza“. Er führte uns dann zu einer Wahrnehmung unseres Körpers, unserer Präsenz und der Stille um uns herum. Diese praktische Übungsanleitung bereicherte mich innerlich oft mehr als seine Vorträge.
Ich hatte allerhand Geschichten über das Meister-Schüler-Verhältnis im Zen gelesen, bei denen ein Schüler immer wieder durch, oft auch sehr strenge, Unterweisungen zu besonderen Erfahrungen geführt wird. So spektakulär gestaltete sich mein Verhältnis zu Willigis erst einmal nicht, aber es war hilfreich für mich. Ich konnte mit allen Anliegen zu ihm in den Dokusan-Raum gehen. Das Gespräch dauerte eigentlich nie sehr lange, aber das wenige, was er mir sagte, empfand ich meist als sehr passend für meine Situation und wenn ich den Raum verließ, spürte ich eine besondere Energie, die ich auf meinen Platz ins Zendo mitnehmen konnte.


1996 brachte Maja unseren gemeinsamen Sohn Leo zur Welt, so dass wir nun zu sechst zusammen in Stegaurach wohnten. Beruflich war ich sehr eingespannt. Neben meiner Architektentätigkeit hatte ich auxh mit Aktivitäten als Bauträger begonnen. Anfangs mietete ich hierzu Büroräume in der Nachbarschaft an, später baute ich, angrenzend an unseren Garten, ein Holzhaus mit Grasdach, in das ich mit meinem Büro einzog.


Im Dezember 1997 besuchte ich vor Weihnachten wieder ein Sesshin bei Willigis in Würzburg, das ich am Samstagabend verließ. Zu Hause angekommen, ging ich bald ins Bett. Ich habe nicht in Erinnerung, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt irgendwie anders fühlte, als nach früheren Sesshins. Ich war leicht erschöpft und gleichzeitig durch die Woche des Schweigens und nun die Rückkehr nach Hause in die Alltagswelt, innerlich etwas aufgewühlt.
Nach kurzem Schlaf erwachte ich in der Nacht und merkte, dass alles anders war. Ich kann heute nur noch sagen: Von einem Moment auf den anderen war alles in Ordnung, alles passte zusammen, es gab kein Gut, kein Schlecht. Ich fühlte mich glücklich und empfand eine grenzenlose, allumfassende Weite. Dieser Zustand hielt ein paar Tage an, verlor dann aber wieder an Intensität, als ich zunehmend in die Anforderungen des Alltags eintauchte.


Im Januar fuhr ich zu Willigis nach Würzburg. Als ich ihm von meinem Erleben nach dem letzten Sesshin berichtete, fragte er mich, ob ich mit einer Koanschulung beginnen wolle. Dies bejahte ich gerne. Koans sind Rätselfragen, für die es keine logische Antwort gibt. Sie sind in jahrhundertealten Sammlungen zusammengefasst und bilden traditionell im Zen eine Technik der Lehrer-Schüler Unterweisung. Der Schüler meditiert mit diesem Koan und wenn er den Eindruck hat, eine Lösung gefunden zu haben, berichtet er dem Lehrer unter vier Augen darüber. Die Lösung kann anerkannt werden oder auch nicht. Dann wird der Schüler erneut auf sein Kissen geschickt, um sich weiter mit dem bisherigen oder einem neuen Koan zu beschäftigen.


Ab jetzt hatten die Sesshins einen anderen Charakter für mich. Während der Meditationsübung ließ ich das Koan auf mich wirken, in mir arbeiten und wenn ich das Gefühl hatte, es gelöst zu haben, ging ich damit zu Willigis ins Dokusan. Die Atmosphäre dabei empfand ich immer als etwas sehr Besonderes. Beim Warten vor dem Dokusan-Raum spürte ich eine sehr eigene Mischung aus Anspannung und innerer Leere. Das Gespräch bei Willigis war meist recht kurz, aber es schien alles gesagt zu werden, was notwendig war. Wenn ich dann wieder auf meinem Kissen saß, fühlte sich dieser Augenblick recht stimmig an. Das eigentliche „Lösen“ der Koans war dabei eher unspektakulär für mich. Es war mehr das Ritual, damit zu Willigis zu gehen und diese besondere Energie aus dem Dokusanraum mitzunehmen. Zudem leitete mich diese Koanschulung für viele Jahre wie ein roter Faden auf meinem Meditationsweg und half mir, diesen immer weiter zu gehen.


2003 reisten wir mit unserer Familie nach Japan. Mein Schwiegervater hatte zum Ende seines Berufslebens in Tokio eine zeitlich begrenzte Professur angeboten bekommen und verfügte in dieser Zeit über eine recht große Wohnung, in der wir mit der Familie wohnen konnten. Kamakura liegt nicht weit von Tokio entfernt an der Küste. Hier hatte Willigis über viele Jahre bei Meister Yamada Koun seine Zenausbildung durchlaufen. Meister Yamada war schon vor einigen Jahren gestorben. Er hatte seinerzeit neben seinem Wohnhaus eine Meditationshalle errichtet, in der er zahlreiche Schüler aus der ganzen Welt in Zenmeditation unterwies.

Willigis hatte mir Kontakt zu einer Deutschen vermittelt, die in Kamakura lebte und über die ich die Möglichkeit bekam, dieses Zendo zu besuchen und dort etwas Zazen zu üben. Es war ein schlichtes Gebäude auf einem beengten Grundstück, mitten in einem Wohngebiet. Die Holzwände waren dünn, ich konnte die Geräusche von draußen alle hören. Aus der ganzen Welt waren früher Menschen angereist, um von Yamada Koun unterwiesen zu werden. In diesem einfachen Raum hatten sie während der Sesshins geübt, gelebt und auch geschlafen. Bevor ich ging, begrüßte mich noch die Ehefrau von Yamada Koun, die hier immer noch lebte und bat mich, Willigis viele Grüße auszurichten.

Nachdem Willigis wegen Konflikten mit Rom nicht mehr im Haus St. Benedikt wirken durfte, wurde mit dem Benediktushof ein neues, viel größeres spirituelles Zentrum eröffnet und im April 2004 durfte ich am ersten Sesshin teilnehmen, das dort stattfand.

Sonnenhof Schwarzwald

Im Dezember 2004 war ich wieder bei einem längeren Sesshin auf dem Sonnenhof im Schwarzwald. Es waren sonnige, milde Wintertage ohne Schnee. Die erste Zeit des Sesshins verlief wie üblich. Als wir uns wieder einmal zum Mittagessen versammelt hatten, hörte ich unter den zahlreichen Geräuschen auf einmal einen Ton. Jemand hatte wohl mit einem Messer oder einem anderen Besteckteil an seinen Teller gestoßen: „Bing“. Ein ganz gewöhnlicher Ton: „Bing“ wie er beim Essen mit vielen Menschen immer wieder zu hören ist. Dieses Bing aber war völlig leer. Es gab kein vorher, kein nachher, keine Frage warum dieser Ton erklungen war, keine Vorstellung von Messer und Teller, die diesen Ton erzeugt hatten. Da war nur das „Bing“ in vollkommenster Reinheit, genau in dem Moment, als es erklang. Dieser Moment war völlig zeitlos. In diesem Bing war alles enthalten, das ganze Universum, und zugleich war es doch einzig und allein nur dieses Bing. Im Laufe des Nachmittags ging das Sesshin mit dem üblichen Zeitplan weiter und irgendwann dachte ich gar nicht mehr an das Erlebnis beim Mittagessen.

Der nächste Tag war Sonntag. Den Nachmittag hatten wir zur freien Verfügung. Ich machte mich auf den Weg zum Belchen, dem Hausberg des Sonnenhofs. Während meiner Wanderung nahm ich einen kleinen Stein wahr, der auf dem Weg lag. Und da war wieder das gleiche Erleben. Dieser Stein war völlig leer, wie der Ton beim Mittagessen. Er schien vollkommen substanzlos. Es war so, als hätte er gar keine Materie und als ich mich umschaute, traf dies auf alles zu, was mich umgab: Bäume, die Berge in der Ferne, der Himmel über mir – alles war völlig leer und substanzlos und ich selbst auch.
Es gab nur meine sinnliche Wahrnehmung, genau in dem jetzigen Augenblick: Ich sehe den Stein, ich fühle seine Form, ich spüre den Wind auf meiner Haut. Aber außer dieser Wahrnehmung war da keinerlei Substanz.

In dem Buch einer amerikanischen Zenlehrerin mit irischer Abstammung, Maura O´Halloran, hatte ich einmal über ihre Zenerfahrung gelesen: “Irgendetwas verließ mich, irgendeine riesige erdrückende Last, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte, und die ich erst bemerkte, als sie von mir hob.“ Diesen Zustand hatte ich mir damals, als ich das Buch las, herbeigesehnt. Jetzt erinnerte ich mich wieder daran. Genau das passierte eben, aber es war völlig anders, als ich es mir beim Lesen vorgestellt hatte.

Ich fühlte mich frei, es gab nichts was mich in irgendeiner Form einschränken konnte. Alles war so, wie es war, ohne Hintergedanken, ohne Interpretationen, ohne Assoziationen: Der Tisch ein Tisch, die Luft die Luft, mein Körper mein Körper ....


Ich sitze unter dem uralten Baum,
schaue nach oben,
die winterkahlen Zweige glitzern im Sonnenlicht.
Kein warum, kein woher, kein wohin.
Ich lasse meinen Blick schweifen,
eine Felsgruppe, dazwischen vereinzelt Bäume,
der Boden mit Farn bedeckt.
Kein warum, kein woher, kein wohin.
Ich schaue tief ins Tal hinab,
winzig kleine Autos fahren auf den Straßen,
aus Schornsteinen steigt Rauch.
Kein warum, kein woher, kein wohin.
Ich stehe auf und gehe weiter,
Schritt für Schritt.
Kein warum, kein woher, kein wohin.


Beim nächsten Gespräch berichtete ich Willigis. Er sah mich an und sagte: Ja das ist es, das ist die ganze Theologie. War das wirklich alles? Es war so simpel, so einfach. Nichts Ehrfürchtiges, nichts Heiliges. Ich fragte Willigis: „Ist das denn wirklich alles?“ worauf er nur lächelte. Ich genoss die restlichen Tage des Sesshins, saß ohne große Anstrengung, ging spazieren, in all der Klarheit um mich herum.


Bereits im Januar war ich zum nächsten Sesshin im Sonnenhof angemeldet. Es hatte geschneit und auf meinen Spaziergängen erlebte ich eine wunderschöne, verwunschene Winterlandschaft. Das Sitzen in Zazen, die Mitarbeit im Haus, die Gespräche mit Willigis – alles war von einer großen Leichtigkeit erfüllt. Die Wahrnehmung meiner Umwelt hatte sich geändert. Zwischen mir und zum Beispiel der Kaffeetasse auf dem Tisch, gab es eigentlich keinen wesentlichen Unterschied. Und obwohl ich mit meiner christlichen Vergangenheit seit dem Jugendalter abgeschlossen hatte, kamen mir Worte wie „Ich habe Gott gesehen“ in den Sinn. Die Tage vergingen wie in einem Rausch.
Sprechen konnte ich über meinen Zustand eigentlich nur mit Willigis. Während des Sesshins wurde geschwiegen und ich hatte auch den Eindruck, dass ein Erfahrungsaustausch über solches Erleben, wie ich es gerade hatte, eigentlich nicht vorgesehen war.
Daheim schwebte ich irgendwie über dem Alltag. Vieles, was meine Mitmenschen beschäftigte und was ich früher auch für wichtig gehalten hatte, kam mir jetzt zunehmend belanglos vor. Das alles ließ sich aber kaum vermitteln.


Mein nächstes Sesshin fand im März auf dem Benediktushof statt. Nach den letzten beiden Sesshins war ich immer noch in einer Art Hochstimmung und hatte das Gefühl, als würde dieser Zustand immer so anhalten. Ich war mit einem hartnäckigen Husten angereist, der auch beim gemeinsamen Sitzen im Zendo anhielt. Am zweiten Tag sprach mich eine Assistentin an, dass mein Husten die anderen stören würde und meinte, ich solle besser in den Vorraum umziehen. Die Vorstellung, alleine in diesem Vorraum zu sitzen empfand ich aber irgendwie als unangenehm und ging dann lieber auf mein Zimmer um dort alleine weiter zu sitzen. Dort sank meine Stimmung plötzlich rapide ab, ohne dass ich es mir erklären konnte. Ich versuchte spazieren zu gehen, doch ich fühlte mich immer deprimierter, begann zu weinen und irgendeine nicht bestimmbare Verzweiflung gewann die Oberhand. Irgendwann ging ich ins Bett, schlief nach einer Weile auch ein, doch als ich früh aufwachte, hatte sich an der verzweifelten Stimmung nichts geändert. Ich ging zum Zendo und bat die Assistentin um Dokusan bei Willigis.
Zuerst brachte ich vor lauter Schluchzen kaum ein Wort hervor. Willigis sagte ich solle langsamer und tiefer atmen und machte mir das vor. Das half etwas, so dass ich wieder meine Stimme fand. „Da ist nur noch Verzweiflung, sonst nichts“. Er meinte, so etwas sei nicht ungewöhnlich: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, und gab mir zur Aufgabe mit Mu zu üben. Mu, Mu nur Mu...


Ich verließ den Dokusanraum etwas gefasster, es gab Frühstück und dann ging ich spazieren, mit ganz langsamen Schritten, fast wie im Zeitlupentempo, Schritt für Schritt – Mu… Mu... Mu... Dieses Mu wurde dabei immer größer, umfasste schließlich alles, auch meine ganze Traurigkeit. Da war keine Traurigkeit, keine Verzweiflung mehr, es gab nur noch Mu. Und dann war auch kein Mu mehr da, nur noch der Weg vor mir, die Sonne am Himmel, die anderen Leute auf dem Weg...
Es hatte sich in mir eine neue Ruhe eingestellt, nicht mehr so euphorisch und überschwänglich wie auf dem letzten Sesshin. Ich hatte das Gefühl angekommen zu sein, hier an diesem Ort, wo ich mich gerade befand.


Ich ging zu Willigis, berichtete ihm und er sagte: „Ich freue mich, ich freue mich für dich“ und ich hatte das Gefühl als wäre auch ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Ich sagte ihm, dass meine wahren Koans im Alltag seien, jeden Tag die Sorgen mit den Kindern, der Ärger im Beruf und was es da alles so gab und dass ich mich darauf freue diese Koans anzugehen. „Aber die Koanschulung machst du schon noch weiter“ fragte er, worauf ich „selbstverständlich“ antwortete.


Morgenspaziergang
Mu – da fährt ein Traktor an mir vorbei
Mu – ich gehe einen Schritt
Mu – die Sonne scheint
Mu – im Schatten ist es noch kalt


Meditationshaus Stegaurach

Für mich veränderte sich einiges in dieser Zeit. Von unseren vier Söhnen zogen die drei Ältesten kurz nacheinander aus. Beruflich wurde es ebenfalls ruhiger. Die Jahre zuvor hatte ich in meinem Architekturbüro sehr intensiv gearbeitet, war geschäftlich teils hohe Risiken eingegangen und hatte die Grenze meiner Belastbarkeit dabei oft überschritten. Ich hatte Geld verdient und auch Geld verloren. Es gab noch Restarbeiten aus dieser Zeit zu erledigen, aber ansonsten tröpfelten nur noch eher kleine Aufträge herein.


Im Sommer war ich auf einem Sesshin im Sonnenhof. Beim Essen saßen immer die gleichen Menschen zusammen am Tisch, man reichte sich schweigend die Speisen und bedeutete mit kleinen Gesten seine Wünsche. Erst zum Frühstück am letzten Tag, kurz vor der Abreise, wurde das Schweigen gebrochen, alle begannen zu reden und der Raum füllte sich mit einem völlig ungewohnten Geräuschpegel. Dabei stellte sich heraus, dass zwei meiner Tischnachbarn aus dem Raum Bamberg kamen. Wir tauschten Kontaktdaten aus und vereinbarten, uns bei mir in Stegaurach zum gemeinsamen Meditieren zu treffen.


Zwischenzeitlich saß ich alleine in dem Holzhaus, in das ich vor ein paar Jahren mit meinem Büro zusammen mit meinen Mitarbeitern eingezogen war. Hier gab es nun genug Platz für unsere kleine Meditationsgruppe, die bald Zulauf bekam. Wir sprachen Bekannte an, ich verschickte E-Mails, verteilte Flyer, organisierte einen Meditationskurs an der Volkshochschule und an Wochenenden vereinzelte Meditationstage. Als Willigis nach Bamberg kam, um in der Konzerthalle vor großem Publikum einen Vortrag zu halten, organisierten wir dort einen Infostand über unsere Gruppe.
Als Abschluss seines Vortrages in Bamberg sagte Willigis sinngemäß: Alles was Sie gerade von mir gehört haben, können Sie eigentlich auch wieder vergessen, aber das, was jetzt kommt ist wichtig. Daraufhin trug er seine geführte Meditation vor, die ich so oft von ihm während der Sesshins gehört hatte.


Ich nahm weiterhin an etwa drei Sesshins im Jahr teil und besuchte auch regelmäßig Willigis auf dem Benediktushof. Als ich im Dezember 2011 wieder zu einem Sesshin auf den Sonnenhof fuhr, hatte ich nur noch wenige von den Koans, die mich nun seit 14 Jahren begleiteten, zu bearbeiten. Am zweiten Tag des Sesshins bekam ich Gelegenheit zum Dokusan. Wie immer wartete ich kniend vor dem Gesprächsraum, bis ich das Glöckchen von Willigis hörte und die Tür geöffnet wurde. Ich begrüßte ihn und präsentierte mein Koan. Er nickte bestätigend, ging dann aber gleich noch auf die drei weiteren, mir verbliebenen Koans ein, erklärte sie kurz und läutete dann seine Glocke als Zeichen, dass das Dokusan beendet sei. Etwas verwirrt ging ich auf meinen Platz zurück. Die vielen Jahre der Koanschulung schienen beendet zu sein. Ich hatte mir das eigentlich etwas spektakulärer vorgestellt und wohl auch ein wenig auf eine Ernennung zum Zenlehrer gehofft. Aber es geschah nichts. Ich saß wie immer auf meinem Kissen, übte Zazen und so ging das Sesshin zu Ende, ohne dass ich noch einmal mit Willigis gesprochen hätte.


Wir verbrachten schöne Weihnachtsfeiertage im großen Familienkreis und Anfang des neuen Jahres fuhr ich zu Willigis auf den Benediktushof. Ich sagte ihm, dass ich etwas unsicher sei, wie es nun nach Abschluss der Koanschulung weitergehe und erwähnte auch das Thema Zenlehrer. „Habe ich dich noch nicht ernannt?“ meinte er, setzte sich an den Computer, druckte meine Urkunde aus, versah sie mit Unterschrift und Stempel und übergab sie mir. „Komm immer mal wieder mit einem Koan vorbei“ meinte er zum Abschied. Als ich nach Hause fuhr, konnte ich nicht ahnen, dass fast 2 Jahre vergehen sollten, bis ich Willigis wieder zu einem Gespräch treffen würde.


Zuhause startete ich nun durch. Mit meinem Büro zog ich ins Wohnhaus in eines der leerstehenden Kinderzimmer. Das ganze Bürogebäude wurde zum Meditationshaus Stegaurach. Meine Mitmeditierer halfen alles zu renovieren, neben dem Zendo einen schönen Aufenthaltsraum einzurichten und die Teeküche zum Dokusan-Raum umzugestalten. Mit einer Feier weihten wir die neuen Räume ein, in die schnell reges Leben einzog. Zwischenzeitlich hatte sich auch eine Gruppe von Assistenten gefunden, die mich bei unseren Treffen tatkräftig unterstützten.


In der Nacht zum Pfingstsonntag weckte mich der Klingelton meines Handys. „Herr Flenner, das Haus brennt. Das Dach steht in Flammen“. Es war einer unserer Mieter aus Coburg. Zusammen mit einem Freund hatte ich dort vor Jahren als Altersversorgung ein Haus gekauft und saniert. „Ich komme“ sagte ich schlaftrunken ins Telefon, zog mich an und setzte mich ins Auto. Schon aus weiter Ferne war die gewaltige Rauchwolke über der Coburger Innenstadt zu erkennen. Der Marktplatz, etwa hundert Meter von unserem Haus entfernt, war voll geparkt mit Einsatzfahrzeugen, überall Blaulicht, Feuerwehrleute, Polizisten, in Decken gehüllte Bewohner, die fluchtartig ihre Wohnungen hatten verlassen müssen. Das Feuer war schon auf das Nachbarhaus übergesprungen. Gewaltige Flammen schlugen aus den Jahrhunderte alten Dachstühlen der beiden Gebäude. Niemand schien zu wissen, wie weit sich die Flammen bereits ins Innere des labyrinthartigen Häuserblocks ausgebreitet hatten und wann die unüberschaubare Anzahl der Feuerwehrleute dem weiteren Vordringen würde Einhalt gebieten können.
Es war schon lange hell, als ich mich wieder auf den Rückweg nach Stegaurach machte und das gespenstische Szenario der von dickem Qualm und Brandgeruch erfüllten Coburger Altstadt verließ. Zum großen Glück war kein Mensch körperlich zu Schaden gekommen. So plötzlich ändern sich die Lebenswege. Von diesem Tag an war alles anders für mich. All meine Kraft, all mein Denken, all mein Tun war nun dem Ziel untergeordnet, das Haus wiederaufzubauen. Die Zeit drängte. Bis zum Winter musste es wieder soweit hergestellt sein, dass es vor der Witterung geschützt war. Als Architekt hatte ich schon viele Häuser saniert, doch diese Aufgabe war eine völlig neue Herausforderung für mich.


Ich hatte jetzt nur noch wenig Zeit, mich um die Organisation unserer Zengruppe zu kümmern. Doch dank der Hilfe der Assistenten liefen alle Treffen nahtlos weiter. In Zeiten außerordentlicher seelischer Belastung hatte mir die meditative Übungspraxis immer wieder geholfen, innerlich zur Ruhe zu kommen und neue Energie zu tanken. Oft fühlte ich mich in einer solchen Situation eigentlich zu erschöpft, um mich auf mein Kissen zu setzen. Doch wenn ich es dann doch tat, wurde diese Übung nach einer Weile zu etwas ganz besonders Wertvollen. Die innere Anspannung ließ nach, das Tosen der Gedanken wurde schwächer, Probleme erschienen lösbarer, es wurde mir leichter ums Herz. Die Gruppe stellte jetzt eine große Hilfe für mich dar. Die Treffen waren organisiert, ich konnte mich einfach dazu setzen und an der Energie, die beim gemeinsamen Meditieren entsteht, teilhaben. Zum Einbruch des Winters war es tatsächlich geschafft. Das Dach war fertiggestellt  und wir konnten entspannter mit den Ausbauarbeiten im Inneren fortfahren. Jetzt konnte ich mich wieder mehr um die Organisation unserer Meditationsgruppe kümmern.

Im darauffolgenden Jahr reiste ich mit den anderen Zenlehrern im September für zwei Wochen nach China. Wir waren von Meister Minghai, dem befreundeten Abt des Bailin Tempels, aus Anlass der Einweihung einer neu gebauten Tempelanlage eingeladen worden.  Vom Flughafen in Peking ging es mit einem Bus zu den fünf Tafelbergen, einem heiligen Gebirge des chinesischen Buddhismus, in dem sich zahlreiche buddhistische Tempel befinden. Wir wohnten in einem kleinen, sehr einfachen Frauenkloster. Obwohl uns die Nonnen wohl die besten Räume und das beste Essen boten, was ihnen zur Verfügung stand, war vieles für uns sehr gewöhnungsbedürftig. Nach einer Nachtfahrt im Schlafwagen gelangten wir zum Gaomin Tempel in Yangzhou, einem der vier wichtigsten Zenklöster in China, einer ausgedehnten Anlage, in dem sowohl Nonnen, als auch Mönche leben und in dem es an nichts zu fehlen schien. Der über hunertjährige Abt empfing uns und fragte: „Woher kommt ihr?“ Unsere Antwort: „Aus Deutschland“ schien nicht das zu sein, was er erwartet hatte, worauf er sich unvermittelt zurückzog. Schließlich fuhren wir zum Bailin Tempel, wo wir ein paar Tage verbrachten, herumgeführt wurden, Vorträge hörten und an speziell für uns organisierten Meditationsübungen teilnahmen. Das Sitzzeiten waren wesentlich länger, als die bei uns üblichen 25 Minuten und das Kinhin erfolgte äußerst zügig. Schließlich wohnten wir der Einweihung der ausgedehnten, mit immensem Aufwand neu errichteten Tempelanlage bei, zu der eine große Menschenmenge und viele Würdenträger angereist waren. Angefüllt mit den vielfältigsten Eindrücken traten wir die Heimreise an.


Willigis sah ich während dieser ganzen Zeit nur flüchtig. Erst im Dezember 2013 besuchte ich wieder einen Kurs bei ihm auf dem Sonnenhof. Es tat gut, hier zu sein, hier auf dem Kissen zu sitzen, in der vertrauten Umgebung, die so viel Ruhe für mich ausstrahlte. Vor dem Dezember des darauffolgenden Jahres erreichte mich die Nachricht, dass Willigis sein letztes Sesshin auf dem Sonnenhof halten würde. Fast 20 Jahre hatte er mich in meinem Leben nun begleitet, unzählige Male hatte ich ihn, zumeist mit einem Koan, in seinem Zimmer aufgesucht.
Bei meiner Ankunft auf dem Sonnenhof, erfuhr ich, dass es noch nicht sicher sei, ob Willigis kommen würde, da es ihm gesundheitlich nicht gut ginge. Tatsächlich begann das Sesshin ganz ungewohnt ohne ihn. Am nächsten Tag jedoch traf er ein. Als ich ihn im Gesprächsraum aufsuchte, begrüßte er mich sehr herzlich, doch nachdem wir uns in den vergangenen drei Jahren nur selten gesehen hatten, gewann ich den Eindruck, dass er auf Anhieb nicht so genau wusste, wo er mich einordnen sollte. Insgesamt wirkte er an diesen Tagen recht erschöpft auf mich.
Am letzten Abend fand die Feier des Lebens statt, eine gemeinsame Zeremonie bei der Brot und Wein geteilt wurden. Viele seiner alten Weggefährten hatten den Weg auf den Sonnenhof gefunden und würdigten in kleinen Redebeiträgen die Zeit, die sie gemeinsam mit ihm verbringen durften. Waren es diese Menschen, waren es die vertrauten Rituale, Willigis blühte auf an diesem Abend. Er sprach frei und mit kräftiger Stimme zu uns, wir konnten noch einmal deutlich seine Kraft und Energie spüren, die uns während einer so langen Zeit in unserem Leben begleitet hatte.


Als ich am nächsten Tag auf dem Heimweg war, fuhr ich eine Weile hinter dem Auto her, mit dem Willigis zum Benediktushof zurückkehrte, bis ich kurz vor Würzburg auf der Autobahn abbiegen musste. Unvermittelt spürte ich in diesem Augenblick, wie alles um mich herum vollkommen leer, ohne feste Substanz war: die Fahrzeuge, die Straße, das gewaltige Brückenbauwerk, unter dem ich gerade hindurch fuhr. Doch zugleich konnte ich wahrnehmen, dass diese Leere nicht einfach nur nichts war. Diese Leere war wie ein Gewusel aus grenzenloser Energie, die alles umfasste, die sich laufend veränderte und neu entstand. Und ich war Bestandteil davon und fühlte mich sehr wohl mitten darin. Mir kam es vor, als hätte mir Willigis mit diesem Erleben ein Abschiedsgeschenk bereitet und frohen Herzens fuhr ich nach Hause.


Meine Tätigkeit als Zenlehrer nahm zwischenzeitlich einen außerordentlich großen Raum in meinem Alltag ein. Ich organsierte die wöchentlichen Treffen, Meditationstage mit Komplettversorgung, führte Einzelgespräche, hielt Vorträge, leitete einzelne Übende mit Koans an, verschickte Rundmails und unternahm mit der Assistentengruppe kleine Wanderausflüge mit anschließender Brotzeit.
An einem Sommertag fuhr ich mit dem Fahrrad nach unserer gemeinsamen Frühmeditation zum Benediktushof, wo ich Willigis zusammen mit Klaus Klapetek auf der Terrasse sitzend antraf. Willigis erwähnte beim Gespräch, dass er Schwierigkeiten habe, sich an Namen zu erinnern. Auf meinen Einwurf, das ginge mir auch oft so und ich sei doch so viel jünger, meinte er, das sei anders bei ihm, das Problem habe er bis vor kurzem noch nicht gehabt. Am nächsten Tag bestieg ich nach der Morgenmeditation wieder mein Rad und traf rechtzeitig zum gemeinsamen abendlichen Meditieren in Stegaurach ein.
Im Februar 2016 organisierte ich an einem Wochenende ein kleines Zenlehrertreffen bei uns in Stegaurach. Wir hatten einen schönen Erfahrungsaustausch in diesem informellen Rahmen und ich glaube, diese Tage sind allen in angenehmer Erinnerung.
Die Organisation unserer Zengruppe nahm viel Energie in Anspruch. Sobald ich in meinem Engagement nachließ, schienen weniger Menschen zu kommen, wenn ich dann wieder mehr Input hineingab, wurden die Treffen auch wieder zahlreicher besucht. Bei einigen Teilnehmern hatte ich den Eindruck, dass sie nur kamen, wenn es im Alltag bei ihnen gerade nicht so gut lief, ging es ihnen wieder besser, sah man sie erst wieder nach längerer Zeit oder auch überhaupt nicht mehr. Das fühlte sich nicht immer sehr befriedigend für mich an.


Coburg


Ohne, dass wir es geplant hatten, tat sich 2017 eine neue Weichenstellung in unserem Leben auf. Durch Zufall hatte ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit erfahren, dass die Stadt Coburg ein historisches Haus in der Innenstadt, einen Steinwurf vom Marktplatz und der ausgedehnten Parkanlage des Hofgartens entfernt, verkaufen wollte. Es handelte sich um ein großzügiges Gebäude, das zeitweise den Coburger Herzögen als Gästehaus gedient hatte. Nach der Besichtigung waren wir von dem Anwesen so fasziniert, dass wir spontan beschlossen, das Haus zu kaufen, zu sanieren und dort einzuziehen.


Wegen der sich daraus ergebenden räumlichen Entfernung nach Stegaurach, begann ich mir Gedanken über unsere Meditationsgruppe zu machen. Dabei wurde mir auch bewusst, dass meine eigene Meditationspraxis vieles von ihrer Intensität verloren hatte. Ich übte zwar gemeinsam mit der Gruppe Zazen, kümmerte mich dabei gleichzeitig aber um den Ablauf und führte zwischendurch Einzelgespräche im Dokusan-Raum. Die Zeit der Kurse bei Willigis, mit allem, was ich dort erlebt hatte, wurde immer mehr zu einer verblassenden Erinnerung und ich spürte, dass mir die langen, ungestörten Übungszeiten in Stille fehlten. Ich hatte schon seit mehreren Jahren kein Sesshin mehr besucht. Ohne diese eigene tiefe Übungspraxis schien mir die Grundlage abhanden zu kommen, um wirklich authentisch als Zenlehrer wirken zu können. Schließlich entschloss ich mich, den Mitgliedern unserer Gruppe mittzuteilen, dass ich sie wegen unseres Umzugs nach Coburg zukünftig nicht mehr betreuen könne. Dabei empfand ich sowohl Wehmut als auch Erleichterung. Zugleich meldete ich mich zu einem Sesshin bei Doris Zölls auf dem Sonnenhof an.


Wir bereiteten den Umzug vor, entrümpelten unser altes Haus und trennten uns von vielem, was sich dort angesammelt hatte und was jetzt niemand mehr bauchte. Auch manchen eingeschliffenen Gewohnheiten und Sichtweisen, die nicht mehr zur neuen Lebenssituation zu passen schienen, erging es so. Ich richtete mir in unserer neuen Wohnung einen schönen Platz her, wo ich nun wieder regelmäßig für mich alleine Zazen übte. Dabei stellte ich mir immer ein paar Sätze als Einstieg voran, die ich aus der geführten Meditation von Willigis weiterentwickelt hatte und die mir halfen, stabil dazusitzen, aufmerksam meinem Atem zu folgen und in die Stille hineinzuhören. Mehr als diese Übung brauchte ich eigentlich nicht. Ich spürte, wie sie in den Alltag hineinwirkte und alles Weitere schien sich ganz von alleine daraus zu entwickeln.
Auf weiteren Sesshins die ich besuchte, und auch auf den Treffen der Zenlehrer, genoss ich die gemeinsame Meditationspraxis. Bei Vorträgen und Diskussionen jedoch hatte ich zunehmend das Gefühl, dass sie mich von meiner Übung wegführten. „Je mehr Worte und Gedanken, desto weiter entfernt von der Wirklichkeit“. Sogar mein Körper begann Abwehrreaktionen zu zeigen, so dass ich oft lieber einen Spaziergang unternahm, anstatt einem Vortrag zuzuhören oder an einer Gesprächsrunde teilzunehmen.


Am 20.März 2020 starb Willigis im Alter von 95 Jahren auf dem Benediktushof. Ich war ihm bei den vergangenen Jahrestreffen der Zenlehrer immer wieder begegnet. Auch wenn er mich nicht mehr recht zu erkennen schien, begrüßten wir uns stets nett und wechselten ein paar Worte. Es war immer schön, ihn wiederzusehen.
Zwei Tage nach dem Tod von Willigis trat der erste Corona-Lockdown in Kraft, der das tägliche Leben, insbesondere die sozialen Kontakte, massiv einschränkte. Für viele, vor allem für junge Menschen, war das sehr belastend. Gleichzeitig empfand ich dieses Abbremsen des Alltagstempos jedoch auch als Chance. Ich konnte mich selbst und die Welt um mich herum mit einer ganz eigenen Ruhe wahrnehmen. Interessant war auch, wie sich in dieser Zeit die Kommunikation über das Internet entwickelte. Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen, gemeinsam online zu meditieren. Jetzt tauchten solche Angebote auf und ich empfand sie als durchaus stimmig. Jeder konnte mit wenig Aufwand teilnehmen, unabhängig von räumlichen Entfernungen. Das gemeinsame Meditieren fand in der gewohnten Umgebung statt, wodurch es nach meinem Empfinden besser in den Alltag hineinwirkte.
Durch die vermehrte freie Zeit, die ich jetzt hatte, kamen auch neue Ideen in mir auf. Ich begann, eine Internetseite über Zenmeditation zu erstellen, nahm die Einführung, die ich meinen Meditationssitzungen voranstellte, als Podcast auf, stellte sie ins Netz und machte Angebote zur Online-Meditation. Dabei begegnete ich einigen meiner alten Weggefährt/innen wieder, worüber ich mich sehr freute.


Im August 2021 nahm ich nach langer Coronapause wieder einmal an einem kleinen Triathlonwettkampf teil. Als ich in den Tagen danach Beschwerden im Brustbereich bekam, riet mir mein Hausarzt, dies abklären zu lassen. Die ersten Diagnosen zeigten keine Auffälligkeiten. Die Leistungsfähigkeit meines Herzens lag für mein Alter deutlich über dem Durchschnitt, was weitgehend nach Entwarnung klang. Die Ärzte rieten mir jedoch, sicherheitshalber noch eine Herzkatheteruntersuchung durchführen zu lassen. Dabei stellte sich heraus, dass meine Herzkranzgefäße in weiten Teilen so verengt waren, dass akute Gefahr eines Herzinfarktes bestand. Trotz meiner eigentlich gesunden Lebensführung hatte mich eine erbliche Vorbelastung eingeholt. Mein Vater und einer meiner Brüder waren beide wegen Herzproblemen gestorben. Nach Meinung der Ärzte, hatte mich der Ausdauersport bisher vor einem akuten Herzversagen bewahrt. Sie rieten mir dringend zu einer Bypass-Operation. Eigentlich wollten wir in den nächsten Tagen zu einer lang geplanten Reise aufbrechen, was sie nun jedoch für keine gute Idee mehr hielten.
Zwei Tage später traf ich in Bad Neustadt in der Herzklinik ein. Nach der Diagnose hatte ich nicht mehr lange überlegt und mich recht schnell für diesen nicht ganz risikolosen Eingriff entschieden. Als ich in meinem Bett zum Operationssaal geschoben wurde, verfolgte ich, was um mich herum geschah und fühlte mich eigentlich recht gefasst. Obwohl ich seit einem halben Jahrhundert an keinen Gott mehr glaubte, kam mir der Ausdruck „Gottvertrauen“ in den Sinn und ich konnte die Situation annehmen, so wie sie war. Die Operation, bei der fünf Bypässe gelegt wurden, verlief gut.


Meine Meditationspraxis war jetzt eine große Unterstützung für mich. Ich lag im Bett und nahm meinen Atem wahr, was mir zu besserer innerer Ruhe verhalf und auch die Schmerzen erträglicher werden ließ. Als ich nach einer Woche in die Reha kam, bat ich meine Frau, mir mein Meditationskissen mitzubringen. Dieses vertraute Sitzen auf dem Kissen, war nochmals eine große Bereicherung. Durch die stabile Haltung und insbesondere auch meine einführenden Sätze, konnte ich mich viel besser auf den Atem fokussieren, wodurch die Intensität der Gedanken von ganz alleine nachließ. Auch wenn ich nachts aufwachte und wegen Schmerzen oder aufkommender Grübeleien nicht wieder einschlafen konnte, setzte ich mich auf mein Kissen. Danach glitt ich stets wieder in einen sanften Schlaf.
Einmal hatte ich in der Rehaklinik ein Gespräch mit einer Psychologin. Wir sprachen über meinen Krankheitsverlauf und als ich ihr von meiner Meditationspraxis erzählte, meinte sie, dass mir diese sicherlich das Leben gerettet habe.


Heute, während ich hier sitze und dies schreibe, liegt die Operation über zwei Jahre zurück. Ich kann meinen Alltag wieder fast so führen wie früher. Durch meinen Krankenhausaufenthalt ist mir die Endlichkeit meines Lebens hier auf dieser Erde sehr deutlich vor Augen geführt geworden, und auch, dass es viel zu schade ist, diese begrenzte Zeit mit Streitereien, Vorwürfen oder Missstimmungen zu vertun.
Zazen leitet mich weiterhin wie ein Sicherungsseil auf dem Klettersteig meines Lebens entlang. Wenn ich Zeit habe, treffe ich mich zweimal wöchentlich mit Weggefährten zur Onlinemeditation und ab und zu in unserem Wohnzimmer zu einem Meditationstag. Die geführte Meditationseinführung, die ich im Kern ursprünglich von Willigis kenne, stelle ich dabei stets voran, egal ob ich gemeinsam oder alleine meditiere. Intuitiv verändere ich sie immer wieder einmal, wenn ich das Gefühl habe, dass eine Formulierung die Essenz meiner Übung besser treffen könnte.


Bisweilen kommt mir die Geschichte vom kranken Meister Ba in den Sinn, der auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortet: „Buddha Sonnengesicht - Buddha Mondgesicht.“ Das Leben hat viele Gesichter und egal, ob es gerade lacht oder weint, offenbart es sich mir immer in seiner ganzen Fülle und Einzigartigkeit.
Dafür, dass ich diese Fülle des Lebens immer wieder erfahren darf, bedanke ich mich bei allen Menschen, die mich auf diesem Weg bisher begleitet haben, ganz besonders bei meiner Frau Maja, meinen Söhnen und natürlich auch bei Willigis.